Missionare auf Zeit

Mitleben, Mitbeten, Mitarbeiten

„Eine unglaubliche Solidarität“

Elisabeth Erffa. Foto: Privat

Elisabeth Erffa beschreibt ihre Corona-bedibngte Ausreise mit Hindernissen

Das erste Mal, dass ich von Corona hörte, muss wohl Ende Januar gewesen sein. Ich telefonierte mit einem Freund und wir redeten über Gott und die Welt, bis er irgendwann sagte: „Hast du das eigentlich schon gehört? In China gibt es irgendwie so eine neue Krankheit.“ „Das kann schon sein“, sagte ich mir – und dann war es auch direkt wieder vergessen. Es ist weit weg und betrifft uns nicht. Dachte ich.

Das war kurz nachdem wir aus unserem gut dreiwöchigen Urlaub zurückgekommen waren. Der Arbeitsalltag begann aufs Neue, wir verbrachten viel Zeit mit den Heimkindern, bald begann auch das neue Schuljahr und für uns der Unterricht in den Klassen. Wenn wir während des Mittagessens Nachrichten schauten und das Virus erwähnt wurde, machte ein Junge aus meiner Gruppe immer darauf aufmerksam. Ich tat es ab. „Es wird schon nicht so schlimm sein. Es ist eine Erkältung. Ein wenig anders, ein wenig gefährlicher, aber im Grunde auch nicht besonders schlimm.“ In der Rückschau vielleicht doch etwas problematisch.

An dem Tag, an dem der erste Verdachtsfall in Bolivien auftrat, begann für uns unser Zwischenseminar. Wir bekamen es nicht mit. Auch wenige Tage vorher haben wir bedenkenlos in gigantischen Menschenmengen den Karneval in Oruro gefeiert. Das Thema war zwar präsent, wurde auch immer präsenter, nur irgendwie war mir nicht wirklich klar, dass es so eine Auswirkung auf unser Auslandsjahr haben würde.

Mulmig wurde mir erst, als auf einmal sämtliche Länder begannen, die Grenzen zu schließen, am 12. März sämtliche Schulen schlossen, die Inlandsflüge gestrichen wurden und ein Mitfreiwilliger, Tobias, kurz vor der Schließung Oruros von dort nach Cochabamba gekommen war. Es folgten Beratungen, wie es jetzt mit der Schule weitergehen solle, unrealistisch viele Hausaufgaben für die Heimkinder und irgendwann die Nachricht: „Ihr müsst zurück.“ Es wurde schon angekündigt: „Am Montag (16. März, Anm. d. Red.) bekommt ihr Informationen von weltwärts.“ 

Wir, meine Mitfreiwillige Vivien und ich, waren gerade dabei, die Aufgaben für die Kinder vorzubereiten, die sie zuhause machen sollten. Bilder ausmalen, Vokale und Zahlen nachschreiben. Schon vorher hatten wir ein wenig gewitzelt, was geschehen würde, wenn dort stehen würde, dass wir zurück sollten. Dann kam die Mail mit der „dringenden Empfehlung zur Rückkehr“. Das hat uns absolut schockiert, weil wir eigentlich nicht damit gerechnet hatten. Schon vorher, nach den Wahlen, gab es kritische Augenblicke, die so gesehen noch viel akuter waren als die Situation zu dem Zeitpunkt. Da war dann gelegentlich die Rede von einem Notfallplan, der jedoch immer recht vage und reine Theorie blieb. Und jetzt sollten wir zurück? Wir waren so schockiert, dass wir erst einmal gar nicht fähig waren, weiter zu arbeiten, geschweige denn sonst irgendetwas zu tun. In meinem Leben habe ich auch noch nie so gezittert!

Das kann nicht sein. Das ist ein Scherz.

Wir saßen auf den Stufen vor der Schule und sagten uns eigentlich durchgehend: „Das kann nicht sein, das ist ein schlechter Scherz …“ Es war total irreal. Auch unverständlich. Wir hatten ja schon Schlimmeres erlebt und es ist nichts geschehen. Klar, man müsste aufpassen, dass man selbst nicht raus geht und das Virus in der Aldea einschleppt, das war uns schon vorher klar, aber wir saßen ja während der Proteste schon mehr oder weniger einen Monat eigentlich nur in der Aldea, da dürfte das doch auch kein Problem sein. Es wäre doch total bescheuert, jetzt wegzufahren und das, was man angefangen hat, einfach stehen und liegen zu lassen. Das ist dann doch auch nichts Halbes und nichts Ganzes.

Vermutlich wurde in der ganzen Zeit noch nie so viel an einem Tag in unserer Freiwilligen-WhatsApp-Gruppe von uns Bolivianern geschrieben, wie zu jenem Zeitpunkt. Es waren so viele Fragen offen: Wie ist das mit den Flügen? Dürfen wir zurück, wenn sich alles wieder beruhigt hat? Auch, wie man von A nach B kommen sollte, weil der öffentliche Verkehr dann auch deutlich beschränkt wurde, war unklar. Buchte man an einem Tag einen Flug, konnte man nicht sicher sein, dass er am Flugdatum noch möglich war.

Bis März verbrachte Elisabeth von Erffa ihr Auslandsjahr in der Aldea Cristo Rey in Cochabamba. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Bis März verbrachte Elisabeth Erffa ihr Auslandsjahr in der Aldea Cristo Rey in Cochabamba.

In dem Moment waren wir sechs MaZ, die mittlerweile auch alle in der gleichen Stadt waren. Die Hälfte von uns hat dann auch relativ schnell im Sinne von „weltwärts“ reagiert und einen doch recht abenteuerlichen Flug für den nächsten Tag gebucht. Ich verbrachte meinen Tag damit, meine Paten anzurufen und mir Ratschläge einzuholen, meine Eltern erreichte ich leider erst spät abends. Meine Hoffnung lag in der Formulierung: „dringende Empfehlung“. Es war kein: „Ihr müsst alle nach Hause kommen“. Am Ende des Tages waren wir zu dritt, die die Situation einfach aussitzen und das Beste daraus machen wollten. Welch ein Irrtum. Ziemlich genau in dem Moment kam dann die Nachricht, dass das ein nett formulierter Befehl war. So begannen die Telefonate aufs Neue.

Mein Vater hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mir einen Flug mit Notfallkontakten an jeder Station zu organisieren. Das war angesichts der Situation, dass gerade alle Deutschen, die sich zu dem Zeitpunkt noch in Bolivien aufhielten und jetzt alle auf einmal zurückwollten, nicht besonders einfach. Am Ende gab es einen Flug von Cochabamba über Santa Cruz, Buenos Aires, Sao Paulo und Madrid nach Hamburg. Dieser sollte am 19. März um 6 Uhr abends abfliegen.

Vivien hatte schon vorher Besuch von ihrer Schwester und Mutter, deren Flug dann abgesagt wurde. Sie wollten aber diesen risikobehafteten Zick-Zack-Flug nicht auf sich nehmen. Also packte ich meine Koffer, verabschiedete mich nach und nach von den Kindern, um dann kurz vorher die Information zu bekommen, dass mein Flug nach hinten verschoben wurde. Es sollte um 5 Uhr morgens am nächsten Tag losgehen. Allerdings galt nachts bereits eine Ausgangssperre, und kein Taxiunternehmen wollte mich um 3 Uhr nachts fahren, weshalb der Padre netterweise mit mir zum Flughafen fuhr. Dort standen schon ein paar Menschengruppen herum, die nicht sehr bolivianisch aussahen, und innerlich stellte ich mich darauf ein, mit ihnen die Nacht am Flughafen zu verbringen.

Unnötigerweise, wie sich später herausstellte, denn die Flughafentaxis hatten wohl eine Sonderregelung. Also fuhren wir wieder zurück, die Kinder waren verwundert, freuten sich aber, dass ich wieder da war. Denen, die fragten, konnte ich erklären, dass es nur für ein paar weitere Stunden ist und ich mich ein zweites Mal verabschieden musste. Das Taxi sollte um zwei Uhr kommen, also war der Wecker auf 1:30 Uhr gestellt. Dementsprechend ging ich früh ins Bett, war aber fürchterlich nervös und konnte erst relativ spät einschlafen.

Abfahrt mitten in der Nacht

Als es dann so weit war, stand ich auf, schlich mich so leise es eben ging aus der Wohnung und der Aldea und vom Gelände. Das Taxi fand nach einigem Verfahren den Weg und wenig später ging die Fahrt los. Als das Taxi vor dem Flughafen hielt, war noch alles dunkel. Er wurde wohl erst um 3 Uhr geöffnet. Netterweise durfte ich noch ein wenig im Taxi sitzen bleiben, der Fahrer und ich unterhielten uns ein wenig. Und als ein wenig Leben in das Gebäude kam, machte ich mich auch auf.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ein Schalter für meinen Flug öffnete. Wie ich dort erfahren sollte, hatte Argentinien kurz vorher, um Mitternacht, die Grenzen geschlossen. Der eher unfreundliche Boa-Mitarbeiter und ich diskutierten mehrfach und länger darüber, dass ich nicht in Argentinien einreisen dürfte, aber es eigentlich auch gar nicht wollte, sondern nur im Transitbereich umsteigen wollte und einen Anschlussflug hatte. Als mir das wirklich komplett aussichtslos erschien, sah ich einen Flug, der direkt nach Sao Paulo gehen sollte. Da waren mehrere Leute, die das gleiche Problem hatten, dass sie ihren ursprünglichen Flug nicht nehmen konnten und deshalb über Sao Paulo fliegen wollten. Der Flug war aber auch schon längst voll. Die ganze Situation war komplett konfus.

Plötzlich war es 7 Uhr, der Flug war vor zwei Stunden ohne mich geflogen. Das waren die letzten Inlandsflüge von Cochabamba, die insgesamt noch geflogen sind, danach wurde der nationale Flugverkehr gestoppt. Das Adrenalin fiel von mir ab und die Erschöpfung vom angestauten Schlafmangel und vier Stunden Kampf um einen Flieger machten sich breit. Netterweise bot der Hermano (einer der Brüder in unserem Projekt) wie selbstverständlich an, mich abzuholen. Wieder in der Aldea angekommen, begegnete ich noch kurz Vivien, ihrer Mutter und ihrer Schwester – und fiel dann erst einmal ins Bett.  Am Nachmittag wunderten und freuten sich die Kinder natürlich, dass ich doch nicht weg war, obwohl auch einige sagten, sie hätten es sowieso nicht geglaubt.

Kinder in der Aldea beim Waschen ihrer Schuhe. Ein Foto von 2012. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Kinder in der Aldea beim Waschen ihrer Schuhe. Ein Foto von 2012.

Aber für uns stand fest, dass wir das Land verlassen mussten. Also begannen aufs Neue Tage des Wartens. In vielen Ländern waren ja schon Rückholaktionen gestartet. Darauf hofften wir auch, allerdings rechneten wir nicht allzu bald mit einem Flieger für Bolivien. Immerhin gab es Länder, in denen deutlich mehr Deutsche festsaßen und in denen das Virus schon deutlich verbreiteter war. In Bolivien hielten sich die gemeldeten Fälle noch immer sehr in Grenzen. Jedoch war diese ständige Ungewissheit nicht angenehm. Jeden Tag hätte die Nachricht kommen können, dass es los geht, dass es einen Flieger gibt. Also lebten wir aus dem Koffer, wuschen nur, was nötig war, damit wir nicht im Zweifelsfall die klatschnassen Klamotten in den Koffer tun mussten, und kontrollierten laufend unsere Mails und die Posts des Auswärtigen Amtes auf Instagram. Dort wurden immer die nächsten geplanten Rückhol-Länder veröffentlicht. Am 25. März wurde endlich auch Bolivien genannt.

Das war die Bekräftigung der Mail, die uns am Tag vorher, dem Dienstag, erreicht hatte. Darin stand, dass am Freitag, 27. März, eine Chartermaschine in Santa Cruz sein würde, die abends nach Frankfurt starten sollte. Dorthin sollten wir auch in einem Flugzeug gelangen und der Transport innerhalb der Stadt zum Flughafen sollte mit einem Bus passieren. Wir wurden informiert, dass wir nur ein Hauptgepäckstück bis 23 kg und ein Handgepäckstück mitnehmen durften. Und dass wir genug Essen mitnehmen sollten, da unterwegs keine Möglichkeiten wären, an etwas zu kommen. Endlich wussten wir halbwegs, was passieren würde. Es war zwar noch alles sehr vage, aber immerhin war es nicht mehr dieses Warten auf irgendwas irgendwann.

Mit dem Bus nach Santa Cruz

Ich fand es wirklich unschön, verfrüht abreisen zu müssen. Aber diese ungewisse Warterei war deutlich unangenehmer, als wenn es ein kurzer und schneller Abschied gewesen wäre. Aber nun hatte das ein Ende. Wir kündigten unsere Abreise aufs Neue an, bereiteten uns vor. Zu diesem Zeitpunkt herrschte eine strenge Quarantäne, die den öffentlichen Verkehr verbot und regelte, dass jeder nur einmal pro Woche rausgehen durfte, abhängig von der Ausweisnummer. Wir bekamen mehrere Dokumente, die uns gewährleisten sollten, ohne Probleme von A nach B kommen zu können. Noch war nicht klar, wie wir ins Stadtinnere kommen sollten, um auf den Sammelbus zu treffen, der uns zum Flughafen bringen sollte. Aber gerade, als wir am Mittwochabend versuchten, das zu organisieren, erreichte uns eine Mail: Es gäbe so viele Personen, die aus Cochabamba zurückfliegen wollten, dass ein Zubringerflug nicht ausreichen würde. Deshalb wären wir zufällig ausgewählt worden, mit dem Bus nach Santa Cruz zu fahren. Das dabei genannte Reiseunternehmen wusste noch von nichts, sollte uns aber mitteilen, wann und wo es losgehen sollte. Wir hatten schon durchgerechnet, dass der Bus vermutlich schon Donnerstag losfahren würde.  Würde der Bus wie der Flug um 10 Uhr am Freitag starten, wäre er nicht rechtzeitig da, damit wir um 23 Uhr im Flieger zu sitzen. Irgendwann hieß es, der Bus würde um 14 Uhr am Donnerstag abfahren.

Ich weiß nicht mehr, ob wir es noch am Abend vorher oder am Morgen des gleichen Tages erfahren haben. Auf alle Fälle haben wir schnell die letzten übrigen Dinge eingepackt und uns nach und nach von allen verabschiedet. Jedes Kind und jeder Mitarbeiter bekam einen Papierschmetterling mit einem Lolli. Zwischendrin versuchten wir, uns um ein Taxi zu kümmern, was aber angesichts der Quarantänebestimmungen nicht ganz einfach war.

Wir bekamen einen Kontakt von der Botschaft zugesendet, welcher uns Taxis vermitteln konnte. Der Letzte aus unserer Freiwilligengruppe, Tobi, war schon länger im Cuatro Esquinas, einem Mädchenheim, wohin er nach seiner Abreise aus Oruro gekommen ist. Er gehörte zu der Gruppe, die nach Santa Cruz am Freitag fliegen sollte. Also hatte er noch etwas mehr Zeit und Ruhe und kümmerte sich für uns um ein Taxi, das uns mittags abholen sollte. Trotzdem war es hektisch genug.

Vivien und ihre Familie kamen noch schnell dazu, ein wenig zu essen. In meiner Gruppe war das Essen gerade fertig, als der Taxifahrer schrieb, er stünde vor dem Tor der Aldea. Schnell verabschiedeten wir uns ein letztes Mal von einigen Kindern und Mitarbeitern, holten unsere Koffer und machten uns auf. Meine Tía war so lieb und gab mir ein wenig Mittagessen in einer ausgewaschenen Butterdose und einen Plastiklöffel mit. Unsere ecuadorianische Mitbewohnerin hatte noch eine kleine Überraschung organisiert. Viele Kinder hatten für uns auf einer bolivianischen Flagge unterschrieben. Ein letzter kurzer Augenblick, dann mussten wir wirklich los, um den Taxifahrer nicht weiter warten zu lassen.

Pünktlich um 1:00 Uhr kamen wir am Treffpunkt auf dem Flughafen an. Auf der Fahrt wurden wir einmal von Polizisten angehalten und mussten ein Dokument vorlegen. Das lief aber problemlos. Die Straßen waren unglaublich leer. Auf Straßen, die sonst immer brechend voll sind, war kein Mensch, kein Auto unterwegs.

In Cochabamba war von der Pandemie bei der Abreise der MaZ noch nicht viel zu spüren. Foto: SMMP/Ulrich Bock
In Cochabamba war von der Pandemie bei der Abreise der MaZ noch nicht viel zu spüren.

Viele waren schon vor uns angekommen, einige wenige trafen nach uns ein. Der Reisebus stand auch schon da. Den Großteil der Leute machten wohl die Freiwilligen aus und die meisten kannte man auch vom Sehen. Wenn man sich nicht einmal bei einem Tandem oder Adelante Mujer begegnet ist, dann hat man das Gesicht trotzdem mal in der Stadt gesehen und sich gedacht “Hm, das ist bestimmt auch ein Freiwilliger”.

Plötzlich wieder unter Deutschen

Bei einer Botschaftsmitarbeiterin in Neonweste mit Deutschlandflaggen-Aufdruck mussten wir unsere Namen nennen, warteten eine ganze Weile, durften dann im angrenzenden Gebäude noch einmal aufs Klo gehen und um kurz nach zwei Uhr abfahren. Irgendwie war die Stimmung seltsam. Angesichts der Situation hätte man Anspannung erwartet, aber es hatte eher etwas von Klassenfahrt. Wahrscheinlich war für uns eben alles einfach so unwirklich und unfassbar. Es war einfach alles komplett absurd. Sich mitten in einer internationalen Pandemie wiederzufinden, von der man aber nur aus den Nachrichten etwas mitbekommt, plötzlich eingeschränkt zu werden, wieder nach Hause zu müssen, sich nur dank offizieller Ausnahmen bewegen zu dürfen und nach Monaten, in denen man immer von Bolivianern oder Menschen anderer Nationalitäten umgeben war, plötzlich wieder nur unter Deutschen zu sein, die alle deutsch sprachen, die alles verstanden, was man sagte; das alles auf so ziemlich einen Schlag.

Der Bus, in dem wir fuhren, war sehr komfortabel. Cama – das bedeutet, dass die Rückenlehne bis 160° neigbar war – sehr geräumig und sehr modern. Immer wieder sahen wir Militärs in voller Montur und Atemmasken, die aufpassten, dass keiner unerlaubt unterwegs war. Manchmal wurden wir angehalten, dann stieg der Busfahrer aus, zeigte Dokumente vor, erklärte, redete mit den Soldaten, stieg dann wieder ein und wir fuhren weiter. Gelegentlich stiegen einzelne Leute in der Fahrerkabine zu, die an anderen Stellen wieder abgesetzt wurden. Ob das in dem Moment so ganz legal war? Vermutlich nicht, aber dafür wahrscheinlich umso lukrativer für die Fahrer.

Vivien und ich saßen jeweils auf einem Einzelsitz hintereinander, ihre Mutter und Schwester nebeneinander auf der anderen Gangseite. Es war sehr angenehm, ein wenig Raum zu haben und sich mit niemandem unterhalten zu müssen. So konnte ich einfach meine Gedanken ein wenig ordnen oder ihnen einfach nachhängen. Ordnen ist wohl das falsche Wort. Es war einfach alles so unwirklich und absurd.

Zwischendurch aß ich ein wenig. Aber nicht zu viel.  Jeder von uns Vieren hatte zwei Brötchen dabei und ich noch mein Mittagsdöschen. Das musste bis morgen, 23 Uhr, reichen. Dann sollte der Flieger starten und in der Luft hofften wir auf etwas Essen. Vorher, so stand es in der Mail des Auswärtigen Amtes, gäbe es keine Möglichkeit noch etwas zu kaufen. Jeder sollte sich das, was man brauchte, selbst mitnehmen. Das gestaltet sich aber schwierig, wenn man das Haus nur an einem von der Passnummer abhängigen Tag der Woche verlassen darf und noch so viel Zeit wie möglich neben den Vorbereitungen mit den Kindern verbringen will. Um mehr zu bitten, hat sich irgendwie nicht richtig angefühlt.

Dementsprechend mussten wir uns unseren Hunger etwas einteilen. Glücklicherweise machte der sich bei mir situationsbedingt nicht so wahnsinnig stark bemerkbar. Dafür umso mehr die Müdigkeit. Die vergangenen Nächte hatten mir weniger erholsamen Schlaf ermöglicht, als ich gebraucht hätte. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich hielten wir an, es war dunkel draußen und wir standen vor dem verlassenen Flughafen in Santa Cruz. Nach und nach stiegen alle aus, bekamen ihr Gepäck und gingen ins Gebäude.

Alle Schalter waren dunkel

Es war seltsam. Man merkte, dass der Flughafen im Moment nicht für Fluggäste ausgelegt war. Er war nur halb beleuchtet, alle Schalter waren dunkel und außer uns waren nur noch ein paar Reinigungskräfte da. Erst gingen wir alle zu den gleichen Bänken, die am einen Ende des Komplexes standen, nach und nach verteilte sich die Gruppe aber auf den ganzen Flughafen. Wir blieben, wo wir waren. Da es kurz nach Mitternacht war, richteten sich alle, so gut es eben ging, gemütlich ein. Viele schliefen auf den Metallbänken, andere legten sich auf den Boden. Ich hatte einen Poncho dabei, der schon in so vielen Situationen wahnsinnig praktisch war und mir da als Unterlage gedient hat. Der Großteil der Gruppe bestand aus jungen Leuten zwischen 18 und 30 Jahren. Das macht einen harten Boden oder eine enge Bank nicht bequemer, aber es gab einige wenige, deutlich ältere Männer, die wie wir einfach da geschlafen haben, wo sich ein Fleckchen anbot.

Bis drei Uhr konnte ich schlafen, danach nicht mehr. Santa Cruz ist eigentlich eine sehr warme Stadt. Deshalb hörte man in der Stille permanent die Klimaanlagen rauschen. Immer wieder liefen kleine Gruppen Stewardessen an uns vorbei. Vermutlich hatten mich ihre Schritte geweckt. Möglicherweise gehörten sie zu unserem Flieger. Es muss wohl so gewesen sein, aber es war mir ziemlich egal. Ich war ganz froh, meine kleine Koffer-Wand-Ecke und meinen Poncho und ein Kissen zu haben.

Schlafen war dann ziemlich unmöglich, also genehmigte ich mir einige Folgen auf Netflix. Irgendwann stand ich auf und lief ein wenig herum. Auf Socken und halb verschlafen durch einen Flughafen zu laufen, ist schon komisch. Der Viru Viru Internaciónal ist zwar im Vergleich zu anderen Flughäfen nicht groß, aber der Eingangsbereich, in dem wir uns befanden, ist trotzdem kein kleiner Raum. Rechts und links lagen vereinzelt Leute und schliefen. Alles war so leise, dass ich mich gar nicht getraut hätte, in Schuhen umherzulaufen, aus Angst die anderen zu wecken. In der Flughafenkapelle traf ich auf zwei andere, die nicht schlafen konnten. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Es spielte keine Rolle, dass wir uns nicht kannten. Wir waren drei wache Leute, auf einem schlafenden Flughafen in einer doch recht schrägen Situation – irgendwann zwischen drei und vier Uhr morgens. Als wir zusammen ein wenig über den Flughafen gingen, waren ein paar Leute vom Fernsehen da, die die schlafenden Leute filmten und, als sie sahen, dass wir wach waren, uns ein paar Fragen stellten. 

Nach und nach wachten immer mehr Leute auf, und es wurde Morgen. Wie einige andere auch machte ich mich, so gut es eben ging, ein wenig frisch. Meine Wasserflasche war inzwischen leer, ich hatte Durst und man konnte, wie angekündigt, nichts kaufen. Eigentlich hieß es immer, wir sollten das Leitungswasser abkochen, bevor wir es tranken. Das war nun leider nicht möglich. So trank ich es so, wie es war. Es hat mir keinen Abbruch getan. Vermutlich hatten die knapp acht Monate bolivianisches Essen den Bauch schon abgehärtet.

Von da an war das Zeitgefühl ein wenig schwammig, und es fällt mir zugegebenermaßen auch etwas schwerer, nun im Detail zu rekonstruieren. Es kann sein, dass einige Dinge chronologisch ein wenig anders abgelaufen sind, als ich es schildern werde. Irgendwie bestand die ganze Zeit aus einem Gemisch aus Warten und sich mit allen möglichen Leuten zu unterhalten. Es herrschte eine unglaubliche Solidarität. Einige hatten genug Essen dabei, andere nur ein wenig und wieder andere gar nichts. Jeder hat mit jedem das geteilt, was er hatte. Meine beiden Brötchen hatte ich dem Mädchen von ganz früh morgens gegeben, weil sie es schon länger nicht mehr geschafft hatte, etwas Gescheites zu essen.

Ich erinnere mich noch ganz genau an zwei andere Freiwillige, die ich überhaupt nicht kannte, die zufällig die richtige Ausweisnummer für den Tag hatten und den Flughafen verlassen durften. Das war allerdings erst einige Stunden später. Sie sind auf gut Glück drauf losgelaufen und haben letzten Endes drei Kilometer weiter eine Tienda gefunden, bei der sie Brot, Äpfel und Bananen gekauft haben. Später am Flughafen haben sie allen davon abgegeben, die nachgefragt haben. Einfach untätig herumzusitzen hätte mich absolut wahnsinnig gemacht. Also lief ich herum, lud mein Handy an einem Cafétisch auf, unterhielt mich mit allen möglichen Leuten, was auch echt schön war. Man war direkt mit allen auf einer Wellenlänge und lernte viele kennen.

Ein Mädchen hatte – woher und warum auch immer – einen Stab, der mit irgendwelcher Strahlentechnik Wasser desinfizierte. Das Wasser schmeckte danach ein wenig verkohlt, aber interessant war es auf alle Fälle. Der Sohn von Freundesfreunden meines Onkels war zu dem Zeitpunkt auch in Bolivien, und ich kannte ihn bis dato nur online. Er war aus La Paz und noch nicht da, aber ein Mädchen aus seiner Organisation war schon im Flughafen, und wir kamen ins Gespräch, stellten den Zufall fest. Sie kannte ihn und bot direkt an, uns dann vorzustellen.

Zauberwort „Boardingkarte“

Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe. Immer mehr Leute von unserer Seite des Flughafens liefen auf die andere Seite, auf der nun auch Leute hinter den Schaltern standen. “Es wird schon einen Grund haben”, dachten wir uns und liefen mit unserem Gepäck hinterher. Im Endeffekt passierte dort nichts Großes, aber immerhin waren dann alle auf der Flughafenseite, die Hauptschauplatz für den Rest des Tages sein sollte.

Das geflügelte Wort war jetzt “Boardingkarte”. Kein Mensch wusste, wie viele Plätze es gab und die Vorstellung, am Ende des Tages in einem Flugzeug zu sitzen und Gewissheit zu haben, war doch deutlich verlockender als der bereits bekannte Flughafenboden. Am Ende konnten wir es nicht beeinflussen und ich hätte meinen Platz sonst auch einem der älteren Herrschaften gegeben, wenn es hart auf hart gekommen wäre, aber ankommen wollten wir ja trotzdem alle.

Nach und nach füllte sich der Flughafen mit den Leuten aus Santa Cruz und Umgebung. Da es versprach, eine lange Wartezeit zu werden, wurde überall Platz genommen: an Tischen oder in Grüppchen auf dem Boden – um sich irgendwie die Zeit zu vertrieben.

Als der Flieger aus La Paz landete, machte sich eine gewisse Skepsis breit, denn die Insassen wurden direkt mit ihrem Gepäck durchgecheckt und erhielten sofort ihre Boardingkarten. Aber was war mit uns, die wir schon die ganze Nacht hier waren? Das gleiche Spiel lief mit den Leuten aus dem Flieger aus Cochabamba. Ein paar andere Leute und ich hatten zwar auf dem Rollfeld das Flugzeug schon gesehen und das war auch echt groß, aber weder hatten wir eine Ahnung, wie viele Plätze es gab, noch wie viele schon vergeben waren. Es wäre doch ungerecht, wenn die, die die komfortabelste Anreise hatten, mitfliegen dürften und wir, die wir schon deutlich länger unterwegs waren, hierbleiben müssten.

Uns wurde mehrfach versichert, dass wir auf alle Fälle mitkommen würden, aber so wirklich glauben wollten wir es erst, als wir die Boardingkarten mit unseren Namen in den Händen hielten. Natürlich war es undankbar, unangebracht und egoistisch so zu denken. Es war logistisch wohl am einfachsten, die, die eh schon eingecheckt hatten, einfach direkt weiter zu lassen. Aber alle, die wir da waren, hatten eine Mission: Kommt an ein Rückflugticket; und das im besten Fall so schnell und schmerzfrei wie möglich. Aber gut. Wir würden es schaffen. Die konnten uns ja schlecht wieder nach Hause schicken. Die Kinder in der Aldea hätten sich ohne Zweifel sehr gefreut, aber so ganz das Wahre war es ja nun auch nicht mehr. Es würde schon alles klappen.

So saßen wir und warteten, lasen, spielten Karten, unterhielten uns, aßen von dem, was uns abgegeben wurde, dösten ein wenig, versuchten,  uns ein wenig von der inneren Anspannung abzulenken, nebendran spielte jemand Gitarre. Nachdem die Leute aus dem Cochabamba-Flugzeug durchgecheckt worden waren, entstand eine längere Pause, in der nichts geschah. Ich spazierte noch ein wenig im Flughafen herum, sah das erste Mal aus der Ferne Nandus durch eine Glastür – kleines persönliches Highlight, weil das Tier in der Buchstabenlehre häufiger verwendet wurde – und ging für einige Minuten nach draußen, zog mich aber bald wieder nach drinnen zurück, weil es draußen einfach zu warm war.

Irgendwann tauchten dann Mitarbeiter der deutschen Botschaft auf. In den orangenen Warnwesten mit der Flagge und dem Schriftzug “Bundesrepublik Deutschland” waren sie eindeutig unverkennbar. Von einer Ansage bekamen wir nicht so viel mit, aber irgendwann ging es los.

Die Suche nach einem Tacker

Das Auswärtige Amt hatte uns ein Dokument zum Ausfüllen gesendet. Das mussten wir nun stempeln lassen, damit es gültig war und wir dafür eine Boarding Card bekommen konnten. Also stellten wir uns an. Als ich an der Reihe war, sagte mir die Botschaftsmitarbeiterin, dass beide Seiten untrennbar miteinander verbunden sein müssten. Das heißt entweder doppelseitiger Druck oder getackert. An so etwas haben wir nicht gedacht, der Einfachheit halber nicht doppelseitig gedruckt und einen Tacker hatten leider auch nicht zufällig dabei. Allerdings hatten schon einige Leute vor uns das gleiche Problem, und deshalb machte mit einem Mal das Gerücht die Runde, dass es irgendwo im Flughafen eine Person mit einem Tacker im Koffer gäbe.

Wir wussten eine ganz grobe Richtung und fanden dann tatsächlich jemanden, die sich mit einem Tacker sehr, sehr beliebt gemacht hat.  Warum hat man einen Tacker im Koffer? Das frage ich mich immer noch. Aber warum auch nicht. Kann sehr nützlich sein. Gerade, wenn man mit der deutschen Bürokratie rechnen muss. Nun konnte das Formular gestempelt werden und nach noch etwas mehr Wartezeit wurde der nächste Schritt eingeleitet.

Die Wartenden wurden kategorisiert. Zuerst wir, die wir aus Cochabamba mit dem Bus angereist sind. Danach generell alle Freiwilligen. Dann kamen Alte und Kranke und dahinter dann Touristen und die, die aus Santa Cruz kamen. Damit die Schlange nicht die gesamte Länge des Flughafens einnahm, wurde sie in drei oder vier Teilen nebeneinandergestellt. Vivien und ihre Familie waren etwas schneller im Anstellen als ich und standen dementsprechend ein ganzes Ende weiter vorne als ich. Ich stand zwischen zwei Jungen, die ich im Laufe des Tages schon mehrfach gesehen hatte. Der Buschfunk funktionierte super. So erfuhr nach und nach der ganze Flughafen, dass wir wohl schon um sieben oder acht Uhr abfliegen sollten. Das war schon eine Erleichterung, denn wir waren die erste Gruppe in der Schlange, und die Hoffnung mitzukommen, wich mehr und mehr einer Gewissheit. Und damit auch die Hoffnung auf ein Abendbrot im Flugzeug.

Die kleinen Happen zwischendurch haben doch das Loch im Bauch nicht wirklich füllen können. Das schien auch vielen anderen so zu gehen und das bekamen auch die Organisatoren mit. Irgendwie haben sie es geschafft, für jeden ein Wurst-Käse-Sandwich und eine Flasche Wasser zu organisieren. Die konnte man sich hinter den Warteschlangen abholen. Es tat echt gut, etwas zu essen, obwohl es nicht wirklich sättigend war.

Mittlerweile war es schon Nachmittag, und die Schlange rückte nach und nach vor. Trotzdem dauerte es noch etwas, bis ich dran war. Und plötzlich begann die Koffer- räumerei. In der Ankündigungsmail wurde jedem Passagier ein Hauptgepäckstück bis 23 kg und ein Handgepäckstück genehmigt. Viele sind ursprünglich mit zwei Gepäckstücken angereist und hatten auch jetzt die Hoffnung, irgendwie beide mitzunehmen. Bei mir hat alles in einen Koffer gepasst, weil einige Kleidungsstücke in der Zwischenzeit ziemlich kaputt gegangen und deshalb in den Müll gewandert sind, andere Dinge habe ich dort gelassen in der Hoffnung, sie würden andern nützen oder eine Freude machen. Trotzdem wog der Koffer mehr als 23 kg.

Es waren nur wenige Schalter besetzt, und die anderen standen leer. Die Kofferwaagen funktionierten aber trotzdem. Ich war nicht die Einzige, die irgendwie versuchte, Tascheninhalte hin und her zu sortieren, um den 23 kg so nah wie möglich zu kommen. In der Hoffnung, dass das Handgepäck nicht gewogen wurde, tat ich so viel es ging in meinen Rucksack. Es passte noch immer nicht ganz, aber selbst am Anfang war mein Koffer bei weitem noch nicht so schwer wie einige andere. Im Endeffekt war das aber nicht wirklich relevant. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob überhaupt auf das Gewicht geachtet wurde.  Einige haben sogar einen großen Wanderrucksack, der eigentlich als Hauptgepäckstück gewertet wird, als Handgepäck durchgebracht.

Temperatur-Messung vor dem Einstieg ins Flugzeug

Eigentlich trug keiner eine Schutzmaske, höchstens die Mitarbeiter der Botschaft. Die Flughafenmitarbeiter waren aber in voller Montur. Weiße Schutzanzüge, Masken, vielleicht hatten einige auch Brillen auf. Das Einchecken ging dann ziemlich schnell. Was war das für ein Gefühl, den schweren sperrigen Koffer nicht mehr umherziehen zu müssen und endlich die lang ersehnte Boarding Card in Händen zu halten. Bis zum letzten Moment war noch die Angst da, dass der Vordermann die letzte bekommen könnte, aber die Schalter hatten noch längst nicht alle Plätze vergeben. Eine Etage weiter oben war die Sicherheitskontrolle. Also ging ich nach oben, wo bereits Vivien mit ihrer Mutter und ihrer Schwester auf mich wartete.

Wir tranken alle unsere Wasserflaschen aus, um keine Flüssigkeiten dabei zu haben. Unnötigerweise, wie wir später feststellten. Andere sind mit Zwei-Literflaschen voll mit Wasser oder Cola problemlos durchgekommen. Gemeinsam passierten wir die Sicherheitskontrolle. Am Anfang wurde bei jedem die Körpertemperatur mit einem Infrarot-Thermometer gemessen, bevor das Gepäck und wir selbst gescannt wurden. Flüssigkeiten waren wohl kein Problem, aber Bastelscheren schon. Mal wieder hatte ich vergessen, sie aus meiner Federtasche zu nehmen – und so musste ich sie dort lassen.

Weiter ging es. Der nächste Schritt war die Passkontrolle. Da Vivien und ich unseren vorläufigen Wohnsitz in Bolivien hatten, mussten wir Ausreisegebühren bezahlen. Für uns war das nicht überraschend. Diese Erfahrung hatten wir schon auf unserer Urlaubsreise gemacht. Die Station hielt uns ein wenig auf, weil wir erst anstehen und dann aufeinander warten mussten. Von dort kamen wir durch einen Gang in den Wartebereich am Gate. Jetzt hieß es nur noch warten, bevor wir endlich in das Flugzeug steigen konnten. Mittlerweile war es Abend, zwar war es noch hell aber es würde wohl bald dämmern. In etwas mehr als einer Stunde würden wir im Flugzeug sitzen und abheben. Wir würden etwas zu essen bekommen und morgen Nachmittag in Deutschland landen.

Zugegebenermaßen war ich schon ungeduldig und ein wenig hibbelig. So kurz vor der vorläufigen Endstation rumsitzen und warten zu müssen, nichts tun zu können, das hat mich innerlich ein wenig wahnsinnig gemacht. Wieder streunte ich ein wenig im Wartebereich umher. So viele Deutsche auf einem Fleck! Viele Gesichter hatte ich schon im Laufe des Tages gesehen, andere waren mir vollkommen neu. Wir wussten nicht, wie viele Leute noch ein Ticket bekommen haben und wie viele hierbleiben mussten. Es wurde aber immer wieder gesagt, dass es noch einen zweiten Flug für die Übriggebliebenen geben würde.

Meine Eltern wollten auch wissen, was der Stand der Dinge war, deshalb telefonierte ich auch noch kurz mit ihnen (mit Blick aufs Rollfeld und das Flugzeug), füllte meine Wasserflasche wieder auf, las ein wenig und dann ging es auch schon los, dass die ersten Leute aufgerufen wurden. Die Sitzplätze wurden zufällig vergeben, da auch die First-Class besetzt wurde und so vermutlich der Vorwurf der Ungerechtigkeit vermieden werden sollte. Im Endeffekt war es aber doch so egal, wo man saß. Zwar war es ein wenig eng (mit meinen knapp 1,70 Meter bin ich kein überdurchschnittlich großer Mensch und stieß mit meinen Knien trotzdem am Vordersitz an), aber meine Güte. Alle, die wir im Flieger saßen, hatten einen Platz bekommen und damit in meinen Augen keinen einzigen Grund, sich zu beklagen. Ich saß am Fenster neben zwei Leuten, die ich überhaupt noch nicht gesehen hatte an diesem Tag.

Nachdem sich alle einigermaßen eingerichtet hatten, kam der Botschafter in den Flieger und teilte uns mit, dass nun knapp 450 Menschen einen Platz im Flieger hätten und somit fast alle, die an dem Tag zum Flughafen gekommen sind. Wie sich die wenigen Übrigen da wohl gefühlt haben? Ich hätte nicht mit ihnen tauschen wollen, ehrlich gesagt. Wenn mich nicht alles täuscht, konnten an dem Tag nur weniger als 10 Leute nicht mitfliegen. Sie wurden wohl von Bussen abgeholt und vielleicht in ein Hotel oder eine andere Unterkunft gebracht. Eine Leiterin unseres Zwischenseminars, die in Santa Cruz studiert, ist aber an dem Tag überhaupt nicht zum Flughafen gekommen. Möglicherweise haben es noch andere so gemacht. Wie viele letzten Endes mit der zweiten Maschine zurückgekehrt sind, weiß ich nicht.

Dann, endlich, endlich, endlich, setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Man merkte, wie schwer es war. Es beschleunigte nur langsam, was einem dieses typische schleppende Gefühl eines wahnsinnig schweren Gefährtes gab. Aber es beschleunigte, fuhr auf die Startbahn und hob letztendlich ab.

Der Moment, auf den wir gewartet hatten

Da war er, der Moment, auf den wir die ganze Woche und vor allem die letzten beiden Tage gewartet haben. Und als wir hoch genug waren, kam das nächste Highlight. Es gab etwas zu Essen. Nudeln mit Käsesoße und noch einiges drum herum. Es war so herrlich. Nichts hätte passender sein können als diese Nudeln mit Käsesoße.  Möglicherweise waren sie nicht so gut, wie sie mir in Erinnerung geblieben sind. Sonst bin ich kein großer Fan von Flugzeugessen, aber das war einfach perfekt. Möglicherweise hatte mein grummelnder Bauch auch etwas damit zu tun.

Praktischerweise wollte meine Sitznachbarin ihren Nachtisch nicht und bot ihn mir, als der Jüngsten in der Reihe, an. Dann weiß ich nur noch, dass ich echt erschöpft war und eingeschlafen bin. Und als ich wieder aufwachte, überquerten wir gerade die Alpen. Ich vertrat mir noch ein wenig die Beine im Flugzeug, unterhielt mich mit Leuten, die ich kannte, bevor wir in den Landeanflug gingen. Ein Mädchen lieh mir netterweise einen ihrer Ohrringe, damit ich meine bolivianische SIM-Karte gegen die deutsche austauschen konnte.

Endlich hebt das Flugzeug ab. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Endlich hebt das Flugzeug ab.

Der Flug ging schnell, denn wir landeten um zwölf. In Frankfurt war es das erste Mal, dass wir den Mindestabstand einhalten sollten. Unser Flieger war nicht der Einzige, der an dem Tag gelandet ist. Zur Passkontrolle sollten wir uns anstellen. Das taten wir gewohnheitsgemäß dicht an dicht, bis wir von einem Mitarbeiter darauf hingewiesen wurden, doch bitte etwas auseinander zu gehen. Da sich immer mehr Leute zu den schon Anstehenden dazugesellten, nahm uns ein Mitarbeiter mit zu einer anderen Kontrollstelle. Das ging zügig und wir gingen weiter, um unsere Koffer abzuholen. Das war nicht unbedingt corona-gerecht.

Alle 450 Passagiere drängten sich um das gleiche Gepäckband, auf dem nach einer Weile nach und nach die Koffer ankamen. Das konnte eine Weile dauern, und es würde wohl auch ein Kunststück werden, dann an das Band zu kommen, um den Koffer greifen zu können. Immer mehr Koffer reihten sich auf dem Band, und es wurde immer enger drum herum. Wie vermutet, dauerte es eine Weile, bis einer unserer Koffer auftauchte.

Leider konnte mich niemand abholen, weshalb ich die Zeit nutzte, um nach einer Zugverbindung zu suchen.  Es gab mehrere Züge, die zu mehr oder weniger menschlichen Uhrzeiten zuhause in Wismar an der Ostsee ankamen. Die Verbindung, mit der ich am frühesten zuhause ankommen würde, führte über Berlin und Ludwigslust. Ob ich sie nehmen könnte, hing sehr davon ab, wann mein Koffer ankommen würde. Doch dann kam er. Tobi hatte seinen mittlerweile auch schon und Viviens Schwester auch. Aber sie selbst und ihre Mutter warteten noch und es fühlte sich nicht richtig an, einfach loszuziehen. Irgendwie waren wir ja doch so etwas wie eine Gruppe.

Irgendwann verabschiedeten Tobi und ich uns aber dennoch und gingen los.  Draußen standen viele Eltern, Freunde und Familien, die ihre Rückkehrer in Empfang nehmen wollten. Ein klein wenig neidisch war ich schon, aber es wäre auch unverhältnismäßig gewesen, hätten meine Eltern über zwölf Stunden im Auto gesessen, nur um mich abzuholen, zumal die Rückfahrt von der Bahn geschenkt war. Also begrüßte ich Tobis Familie noch einmal aus 1,5 Metern Abstand. Wir unterhielten uns noch einmal kurz, bis ein kurzer Blick auf die Uhr mir sagte: “Los los! Lauf jetzt oder du bekommst den Zug nicht!” Also lief ich.

Ich kannte mich nicht aus, hatte keinen Schimmer, wie weit es bis zum Flughafenbahnhof war und nur noch verhältnismäßig wenig Zeit. Zum Glück war alles gut ausgeschildert, und so fand ich den Bahnhof relativ einfach. Problematisch war eher die Zeit. Meine Kondition ließ definitiv zu wünschen übrig und die Erschöpfung der letzten Tage, der schwere Koffer und der Rucksack auf meinem Rücken waren nicht unbedingt förderlich. Aber ich hatte ein Ziel und das ärgerlichste, was mir hätte passieren können, wäre, wenn der Zug vor meiner Nase abfahren würde, nur weil ich mich nicht zusammenreißen und weiterlaufen konnte. Also lief ich, schaute immer wieder auf die Uhr und bekam jedes Mal einen Schreck, wenn die Minuten schon wieder fortgeschritten waren. Aber endlich kam ich am richtigen Gleis an.

Da brach ich erst einmal in Tränen aus

Dort stand ein Zug und die Anzeigen sagten mir, dass es der richtige Zug war. Der Zug sollte um 13 oder 14:12 Uhr abfahren. Das weiß ich noch. Und als ich meinen Koffer gerade in den Zug gehievt hatte und auf die Uhr blickte, war es punkt 12 Minuten nach. Nur wenige Augenblicke später fuhr der Zug an, ich lehnte mich an die Wand und brach erst einmal in Tränen aus.

In dem Moment fiel die ganze Anspannung von mir ab, von der ich teilweise nicht einmal gemerkt habe das es da war. Es war alles gut, jetzt war alles einfach und bekannt. Ich musste mich um nichts mehr sorgen, ich hatte den Zug erreicht, besser konnte es nicht sein. Und von jetzt an würde sich alles von allein regeln. Jetzt brach sich all die Erschöpfung und Müdigkeit endgültig Bahn. Was vorher noch die Aufregung und das Denken an den nächsten Schritt unterdrückt hat, kam alles auf einmal an die Oberfläche und ich war einfach nur noch erleichtert und fix und fertig.

Die Suche nach einem Sitzplatz gestaltete sich sehr einfach. Es waren nicht viele Plätze belegt. Es saßen auch andere aus dem Rückholflug im gleichen Zug. Sich zu ihnen zu setzen wäre möglicherweise sehr nett gewesen, aber ich wollte mich einfach nicht mit anderen Menschen auseinandersetzen und unterhalten müssen. Am liebsten hätte ich geschlafen, aber wenn ich geschlafen hätte, wäre ich garantiert nicht rechtzeitig zum Aussteigen aufgewacht. Das Risiko war es mir nicht wert. Im Sitzen und im Hellen wäre es vermutlich eh kontraproduktiv geworden. Dazu kam, dass ich mich absolut ekelig fühlte und dagegen erst einmal etwas unternehmen musste.

Zum Glück hatte ich etwas Seife, Zahnputzzeug und ein Wechselshirt im Handgepäck. Es war so befreiend, sich wieder etwas frisch zu machen, sich etwas Sauberes anzuziehen und die Zähne zu putzen. Vielleicht war das komisch. Zwischendurch wollte jemand aufs Klo, weshalb ich meine Zähne auf dem Gang putzte. Bestimmt war es schräg. Aber es war so egal. Nichts hätte ich in dem Moment weniger kümmern können. Zurück am Platz packte ich die Sachen zurück in den Rucksack, nahm mir meinen Laptop und schaute Ice Age 5. Die Story habe ich längst vergessen. Aber den Zweck, mich einfach mit irgendetwas Einfachem berieseln zu lassen, hat es erfüllt.

Vor mir saß ein Elternpaar mit ihrer kleinen Tochter. Sie sprachen halb portugiesisch, halb deutsch. Das Mädchen war sehr neugierig und offen und schaute immer wieder hinter ihren Sitz zu mir. Also verbrachte ich einen ganzen Teil der Fahrt damit, mit ihr ein wenig zu spielen. Zwischendurch gönnte ich mir eine Cola, einen Twix und ein Käsebrötchen aus dem Bordbistro. Mehr als 7€ musste ich dafür bezahlen. Dafür hätte man in Bolivien sieben komplette Mahlzeiten bekommen können. Aber meine Güte. Das wollte ich mir dann einfach einmal genehmigen.

Es war einfach der Wahnsinn, so schnell, so lautlos, so unkompliziert und bequem von einem Ort zum anderen zu kommen. Auch die Ticketkontrolle kam mir so entspannt vor wie nie. Der Zugbegleiter hatte wegen der wenigen Fahrgäste keinen Stress, nahm sich Zeit, ich musste nur meine Boarding Card vorzeigen und bekam ein Lächeln und ein “Na dann haben Sie das Gröbste ja schon geschafft. Wie weit müssen Sie noch?” – “An die Ostsee.” -“Oh, aber ein Weilchen fahren Sie dann schon noch. Viel Glück.”

Erst in Berlin merkte ich, wie kalt es tatsächlich war. Natürlich war das so subjektiv wie es nur ging, weil wir in Bolivien ja ganz andere Temperaturen gewöhnt waren. Einen Pulli und meine Drei-in-Eins-Jacke hatte ich schon an, und am Bahnhof selbst zog ich mir noch eine Stoffhose über meine Sporthose. Dann plötzlich war ein anderes Mädchen aus dem gleichen Rückholflug am Gleis. Wir erkannten und unterhielten uns, obwohl wir vorher noch kein Wort gewechselt hatten. Sie musste noch weiter nach Wittenberge und sehr bald kam dann auch ihr Zug. Meiner hatte Verspätung, aber in knapp drei Stunden würde ich zuhause sein. Dachte ich zumindest.

An Ludwigslust vorbeigerauscht

Irgendwann kam mein Zug. Mein Onkel hatte alle aus der Familie inklusive Großeltern zum Stadt-Land-Fluss-Spielen auf Zoom eingeladen. Also nutze ich das WLan im Zug aus und klinkte mich da ein. Das war schön, fast alle Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel und die Großeltern wiederzusehen, wenn auch nur virtuell. Aber irgendwann kam mir das alles etwas seltsam vor, weil wir trotz Verspätung eigentlich schon in Ludwigslust sein müssten. Google Maps zeigte mir, dass wir Ludwigslust gerade hinter uns gelassen hatten. Auf Nachfrage bei den Schaffnern im Nachbarabteil wurde mir gesagt, dieser Zug habe noch nie in Ludwigslust gehalten und der nächste Halt wäre Hamburg Hbf. Das war natürlich der Jackpot.

Es war schon ein wenig frustrierend und sehr nervend, fast da zu sein und dann einfach am Ziel vorbeizufahren. Also suchte ich eine neue Verbindung von Hamburg aus. Es gab einen Zug, der aber mit der Verspätung eigentlich unmöglich zu erreichen war, und dann erst wieder knapp zwei Stunden später. Also warnte ich meine Eltern vor, dass ich sehr wahrscheinlich doch nicht zu einer so menschlichen Uhrzeit ankommen würde, wie es angedacht war. Kurz stand die Überlegung im Raum, ob sie kommen und mich in Hamburg abholen sollten, aber letztendlich hätte ich auf sie fast genauso lang gewartet, wie auf den Zug.

Der Zug erreichte Hamburg Hbf in der Minute, in der der andere Zug abfahren sollte. Ich versuchte es trotzdem und rannte so gut es ging zum entsprechenden Gleis. Aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Das Gleis war komplett leer. Ein bisschen ziellos tigerte ich umher. Draußen war es schon dunkel und im ganzen Bahnhof war es kalt. Ich lief an einer Familie vorbei, die einen Sohn aus einem Rückholflug herzlich in Empfang nahm. Sie hatten ein Schild dabei: “Willkommen zurück!” Ein bisschen neidisch war ich schon. Alle waren schon zuhause und ich würde erst um halb 2 Uhr morgens ankommen…

Langsam reichte es mir mit der Rumreiserei. Ich hatte echt einfach keine Lust mehr. Ich war müde, es war kalt, wegen Corona waren alle Warteräume zu und an allen anderen Orten zog es. Irgendwann fand ich eine halbwegs geschützte Ecke, in der ich mich auf meinen Koffer setzte und darauf hoffte, dass die Zeiger sich vielleicht ausnahmsweise einmal schneller drehen würden als normalerweise. Aber das taten sie natürlich nicht. Ständig kamen irgendwelche Leute, die Geld haben wollten. Ich hatte doch selbst keinen Euro dabei, wollte einfach nur meine Ruhe haben, endlich im Warmen und zuhause sein. Ein paar Male fauchte ich sie einfach nur noch unfreundlich an, sie sollten mich in Ruhe lassen. Nicht die feine englische Art, und im Nachhinein tat es mir auch leid. Am Ende durfte ich mich netterweise in einen Buchladen setzen. Der Verkäufer hatte mich schon länger gesehen, weil ich gegenüber von seinem Laden saß.

Irgendwann war es Zeit, zum Gleis zu gehen. Der Zug kam, es stiegen nur wenige andere ein und die Zugfahrt ging los. Vom Geschehen um mich herum bekam ich kaum etwas mit. Ich war einfach viel zu kaputt. Ich ließ mich von meiner Serie berieseln und ließ die Zeit verstreichen. In Bad Kleinen hätte ich noch ein letztes Mal umsteigen müsse,n aber dort holten meine Eltern mich dann ab.

Elisabeth Erffa am Bahnhof. Foto: privat
Elisabeth Erffa am Bahnhof. Foto: privat

Nach 56 Stunden am Ziel

Das war so schön! Es war so eine wahnsinnige Freude, sich gegenseitig wiederzusehen. Jetzt konnte wirklich nichts mehr schiefgehen. Mein Vater nahm meinen Koffer, wir gingen zum Auto und fuhren durch die Dunkelheit über die Straßen, die ich schon so lang kenne – und schließlich kamen wir zuhause an. Die Abfahrt aus der Aldea war dann mehr als 56 Stunden her. Meine Mutter hatte mein Zimmer liebevoll hergerichtet, Blumen auf den Nachtisch gestellt und die kleinen Lampen angemacht, so dass es einladend und gemütlich wirkte.

Ich war so müde, aber auch so froh, wieder zuhause zu sein und meine Eltern wiederzusehen. Meine Brüder schliefen schon. Es war ja auch schon nach ein Uhr. Es gab noch Lasagne. Wir alle hatten ja gedacht, wir würden zusammen Abendbrot essen, und dafür gab es extra mein Lieblingsessen. Das gemeinsame Essen gab es leider nicht – aber vielleicht genoss ich meine Portion sogar umso mehr, weil ich viel länger darauf warten musste.

Entgegen meines ursprünglichen Plans saß ich noch bis 3 Uhr morgens mit meiner Mutter im Wohnzimmer und wir unterhielten uns mit ein paar Chips, einer Kerze auf dem Tisch und einem Glas Weißwein. Und dann gingen wir ins Bett und ich schlief aus. Als ich am nächsten Tag meine Brüder sah, hatte sich nur unser Größenverhältnis verändert. Ansonsten war alles wie an dem Tag, an dem wir uns verabschiedet haben.

Elisabeth Erffa