Missionare auf Zeit

Mitleben, Mitbeten, Mitarbeiten

Vier Seelen für eine Papaya

Einer meiner Vorschulgruppen, denen ich Englisch beibringe. (Foto: Jasper Kurth)
Einer meiner Vorschulgruppen, denen ich Englisch beibringe. (Foto: Jasper Kurth)

Jasper Kurth berichtet aus dem Casa de Niños Santa Maria Magdalena Postel, Cochabamba, Bolivien

Seit drei Monaten bin ich nun schon als MaZ in der bolivianischen Großstadt Cochabamba im Einsatz und arbeite, lehre und lerne in meinem Projekt dem Kindergarten „Casa de Niños“. Das für mich wichtigste ist jedoch, ich lebe nicht nur in einem für mich vollkommen neuen Land, auf einem, für mich vollkommen fremden Kontinent, sondern ich erlebe jeden Tag aufs neue Situationen, die man sich in Deutschland nicht hätte vorstellen können. Was Armut wirklich bedeutet, wie man sich als Ausländer in einem Land fühlt, wo dir allein durch dein Aussehen der Stempel „Fremder“ auf die Stirn gedrückt wird und wie man zu Kindern, die davon überzeugt sind, dass das Land aus dem du kommst einfach mit Straßenverkehrsmitteln zu erreichen ist, eine Beziehung aufbaust, die du nicht mehr missen möchtest. Den Antworten auf diese Fragen bin ich in den drei Monaten näher gekommen. Aber jetzt erstmal von Anfang an.

Am 26.08.2017 begann mein Abenteuer am Frankfurter Flughafen. Ein Tag später kamen wir Freiwilligen in Bolivien, erschöpft von ca. 20 Stunden Reise, an. Am Flughafen wurden wir herzlich empfangen und abgeholt. Die Autofahrt zu unserer Unterkunft war geprägt von zahlreichen Eindrücken. Was ich mir kurz nach meiner Ankunft notierte waren positive, wie auch negative Wahrnehmungen. Sofort fielen mir die vielen Straßenhunde auf, der viele Müll, der auf den Straßen lag und wie runtergekommen die Gebäude zum Großteil aussahen.

Auf der anderen Seite lachte einen sofort nach der Ankunft die Sonne, die seitdem nur selten mal verschwunden ist, an. Was mich aber besonders faszinierte; überall wo man hinschaute waren die Anden, die sich rund um das Tal, in dem Cochabamba liegt, ziehen. Außerdem fielen mir sofort die bunten, traditionellen Kleider und die großen Hüte der bolivianischen Einheimischen auf. Des Weiteren beeindruckte mich der imposante Cristo de la Concordia, die zweithöchste Christus-Statue der Welt, die hoch über der Stadt wacht. Als es dann über die Cancha, dem größten Markt Lateinamerikas ging, kam man aus dem Staunen nicht mehr raus. Einfach alles wird hier verkauft, von frischem, lokalem Obst über Instrumente bis zu lebendigen Tieren. Hundemüde fiel ich mit Jetlag und unfassbar vielen Eindrücken ins Bett.

Arbeit im Kinderhaus

Nach einigen Tagen, die der Akklimatisierung sowie der Zurechtfindung dienten, begann meine Arbeit im Montessori-Kindergarten „Casa de Niños“ unter der Leitung von Sr. M. Cornelia. Seitdem arbeite ich dort jeden Tag von Montag bis Freitag von 8:30 bis 16:30. Der Kindergarten wurde 2006 von der deutschen Ordensschwester gegründet. Damals waren es 40 Kinder, heute sind es ca. 180. Zu dem Kindergarten, der aus sechs Gruppen besteht, gehört zusätzlich eine Grundschule mit 18 Kindern. Der Großteil der Leute, die auf der Cancha arbeiten, nehmen ihre Kinder meist mit zur Arbeit. Die Kinder verbringen folglich den Tag im dreckigen, gefährlichen und lauten Umfeld der Cancha ohne dabei vorschulische Bildung zu erhalten. Das Casa de Niños bewahrt die Kinder davor. Es gibt natürlich Eltern, die die Kosten für den Kindergarten nicht aufbringen können, sodass ein Teil der Kinder kostenfrei den Kindergarten besuchen können und neben der vorschulischen Erziehung auch drei Mahlzeiten erhalten.

Die Kinder beim gemeinsamen Frühstück. (Foto: Jasper Kurth)
Die Kinder beim gemeinsamen Frühstück. (Foto: Jasper Kurth)

Der Arbeitstag in der Einrichtung fängt für mich um 8:30 an, wenn alle Kinder in ihren Gruppen sind. Meine Gruppe ist die blaue Gruppe bzw. der „Sala azul“, zu dem derzeit 35 Kinder zwischen drei und sechs Jahren, sowie zwei Erzieherinnen, darunter eine Ordensschwester, und ich gehören. Alles richtet sich stets nach dem Prinzip der Maria Montessori.

Nach einem gemeinsamen Gebet werden wichtige Neuigkeiten oder besondere Tage besprochen, die es in Bolivien reichlich gibt, z.B. den Tag des Baumes oder den Tag der Schüler. Außerdem wird gemeinsam das Datum gesprochen, Regeln und weitere Anliegen wiederholt bzw. mitgeteilt. Nach dem Sitzkreis geht es zum Desayuno, dem Frühstück, bei dem die Kinder meist ein Heißgetränk erhalten.

Nachdem aufgeräumt wurde, fangen die Kinder an sich Materialien zu suchen, die aus den Bereichen Mathematik, Biologie, Geografie, Sprache oder dem praxisorientierten Leben kommen. Während des Vormittags helfe ich den Kindern bei ihren Aufgaben, erkläre den jüngeren Kindern neue Materialien und helfe den Größeren beim Lesen- und Schreibenlernen. Mittwochs gebe ich ab 10:00 Uhr drei Gruppen der Grundschule, zu je sechs Kindern, Englischunterricht. Donnerstags, wenn die Kinder eine Stunde Musikunterricht haben, erstellen wir Erzieher in unseren Gruppen „Hausaufgaben“ für die Kinder, welche sie über das Wochenende machen sollen.

Die Kinder arbeiten mit den Montessori-Materialien. (Foto: Jasper Kurth)
Die Kinder arbeiten mit den Montessori-Materialien. (Foto: Jasper Kurth)

Für die Kleinen sind das meist Ausmalaufgaben, für die Mittleren das Kennenlernen einzelner Zahlen und Buchstaben und für die Vorschulkinder gibt es schon anspruchsvollerer Aufgaben. Außerdem kriegen sie auch jede Woche eine kleine Englischaufgabe dazu, die ich mir vorher ausdenken muss. Um 12:00 Uhr (mittwochs 12:30) habe ich dann Mittagspause, in der ich mein Mittagessen separat von den Kindern einnehme. Eine Stunde später geht es dann zum Spülen, was für 180 Kinder keine kurze Angelegenheit ist.

Was das Abtrocknen aber kurzweiliger macht ist, dass eine Mitarbeiterin mir nebenbei immer ein bisschen Quechua, die in Cochabamba gängige indigene Sprache, beibringt. Nach dem Abtrocknen, fängt mein Englischunterricht für die Vorschulkinder an. Auf spielerische Weise, mit Liedern und kleinen Aufgaben bringen ich den Kindern, die sich sehr motiviert für die Sprache zeigen, die Zahlen, Farben, Früchte, Familienmitglieder etc. auf Englisch bei. So wird den Kindern, die hier sehr fremde und kaum verbreitete Fremdsprache, schon früh näher gebracht. Den Englischunterricht bereite ich meist am Nachmittag, wenn ich von der Arbeit komme, vor.

Nach zwei Stunden Englisch, geht es zurück in meine Gruppe für das Merienda, einen Nachmittagssnack. Anschließend werden die Kinder gekämmt, es wird aufgeräumt und sauber gemacht. Wenn das passiert ist, versammeln sich alle Gruppen draußen vor dem Tor, wo die Kinder bis 16:30 abgeholt werden. Das Tor wird geschlossen, die Kinder sind gegangen und mein Arbeitstag ist zu Ende.

Dia de Todos los Fieles Difuntos

Eines der besondersten Ereignisse war für mich der Allerseelentag, „Dia de Todos los Fieles Difuntos“.
Im Kindergarten feierten wir dieses Fest bereits ein Tag vorher. Jedes Kind brachte etwas zu Essen mit und einen Zetteln mit den Verstorbenen der Familie. Jede Gruppe baute dann einen Altar auf. Anschließend besuchten sich die Gruppen gegenseitig. Kam eine Gruppe, so betete diese einige Gebete, besonders für die Verstorbenen der besuchten Gruppe, und erhielt im Anschluss etwas von dem mitgebrachten Essen, was auf dem Altar platziert war. Am eigentlichen Allerseelentag hatte ich frei und ging mit den Freiwilligen aus einem Heim und den Heimmädchen auf den Friedhof von Tiquipaya, einem Vorort von Cochabamba.

Das Treiben auf dem Friedhof glich einer Massenveranstaltung. Die gesamte Bevölkerung traf sich vor den Gräbern, aß, trank und feierte die Toten. Die meisten Familien breiteten vor ihren Familiengräbern, wie wir zuvor im Kindergarten, Nahrungsmittel aus. Beliebig konnte man zu einem Grab gehen und für die jeweiligen Toten einige Gebete sprechen. Im Gegenzug erhielt man dann z.B. ein Brot, Süßigkeiten, Avocados und Bananen. War man besonders an einer Ware interessiert, so wurde ganz einfach nachgefragt, was man denn dafür machen müsse, weshalb ich wohl den ganzen Tag unter den Titel „Wie viele Seelen für eine Papaya?“ stellen würde. (Insgesamt musste für eine Papaya für vier Seelen gebetet werden, je ein Vater Unser, Ave Maria und Ehre sei dem Vater.)

Ein anderer sehr besonderer Tag war der Tag von Cochabamba (Día de Cochabamba), der mit Paraden quer durch die Stadt begangen wurde. Auch im Casa de Nñios wurde der Tag groß gefeiert, da gleichzeitig eine Feier anlässlich des Namenstags der Kindergartenleitung Sr. M. Cornelia veranstaltet wurde. Alle Gruppen führten verschiedene Tänze auf, selbst die zweijährigen Kleinkinder boten etwas dar.

Bald steht im Kindergarten die große Promito an, an der die Vorschulkinder vom Kindergarten verabschiedet werden. Sie werden eine Art Zeugnis erhalten, es gibt einen Gottesdienst, den ich mit organisiere und die Kinder werden erneut tanzen und Lieder auf Spanisch und auch eins auf Englisch, was ich mit ihnen einstudiert habe, vorführen.

In den drei Monaten, in denen ich jetzt schon hier bin, hat man sich nicht nur bei der Arbeit eingelebt, sondern auch im alltäglichen Leben und natürlich hat man schon viele neue Leute kennengelernt.

Seit ein paar Malen nehmen ein paar andere Freiwillige und ich am Tandem teil, das immer dienstags stattfindet. Hier treffen sich Deutsche, Bolivianer und andere Nationalitäten, wie Leute aus Argentinien oder Frankreich, zum kulturellen Austausch und zum Kennenlernen. Mit einem Bolivianer, mit dem ich mich lange unterhalten habe, haben sich ein paar Freiwillige und ich verabredet, denn er versprach mir, uns Salsa beizubringen, was er kurz darauf auch umsetzte. Außerdem gebe ich jeden Dienstag und Donnerstag einem bolivianischen Studenten Englischunterricht, der dies für sein Studium braucht, aber keinen Sprachkurs finanzieren kann.

Zwei Male haben wir MaZ auch schon an einem Apthapi teilgenommen. Das Wort Apthapi kommt aus Aymara, einer weiteren indigenen Sprache. Es bedeutet so viel, dass jeder etwas zum Teilen mitbringt und man zusammen isst. Dort lernten wir die bolivianische Spanischlehrerin von zwei anderen Freiwilligen kennen, die auch an der Sprachschule arbeiten. Über eine Schwester wurden wir zu einem Firmgruppentreffen eingeladen, wo wir ins Gespräch mit bolivianischen Jugendlichen kamen und unsere Heimat ein bisschen vorstellten. Ein paar Wochen später fand dann die Firmung statt, bei der 130 Jugendliche das Sakrament empfingen.

Nach den drei Monaten kann ich schon festhalten, dass ich mehr als dankbar bin, für die Erfahrungen, die ich hier in Bolivien mache. Jeder Tag birgt ein kleines neues Abenteuer. Und auch wenn man nie wie ein Bolivianer aussehen wird, fühlt man sich Tag für Tag ein Stück mehr als einer, wobei man
auch merkt wie Deutsch man doch ist, wenn man sich zum Beispiel mal das Thema Pünktlichkeit anschaut. Eines steht auf jeden Fall fest: Ich kann die kommenden Monate kaum erwarten und bin mehr als bereit für alles, was noch kommen wird.